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Der
Beerdigungsrabatz
Uri Avnery
22. Oktober 2016
SHIMON PERES hätte es
erfreut. Ein öffentlicher Kampf um seine Beerdigung.
Die arabischen
Mitglieder der Knesset waren nicht anwesend. Also, was?
Ich nahm auch nicht
daran teil. Wir mochten uns beide nie und meine Teilnahme wäre
schiere Heuchelei. Ich mag keine Heuchelei.
Die Knesset-Mitglieder
der Gemeinsamen Liste entschieden, die Zeremonie zu boykottieren.
Sie beschuldigten Peres, die meiste Zeit seines Lebens dem Kampf
gegen die Araber allgemein und gegen die Palästinenser im Besonderen
gewidmet zu haben.
(Die Gemeinsame Liste
setzt sich aus drei arabischen Parteien zusammen, die sich meistens
gegenseitig verachten. Sie waren gezwungen, ihre Kräfte im Parlament
aufgrund eines Gesetzes zu bündeln, das der extrem-rechte (manche
würden sagen, faschistische) Minister Avigdor Lieberman initiierte
und das die Eintrittsschwelle zur Knesset erhöhte. Deshalb ist es
eine Gemeinsame Liste und keine Vereinte Liste.
Die Entscheidung, die
Beerdigung zu boykottieren, entfachte einen Sturm von Protesten
unter den jüdischen Knessetmitgliedern. Wie können sie es wagen? Den
verstorbenen Peres boykottieren, das ist, als ob man Israel
boykottiert! Sie sollten von der Knesset ausgeschlossen werden! Alle
Mitglieder der Knesset sollen den Saal verlassen, wenn sie reden!
(Eigenartigerweise hat jedoch niemand vorgeschlagen, sie ins
Gefängnis zu stecken.)
Aber der wirklich
interessante Teil dieser Begebenheit war die Debatte, die unter den
Arabern ausgelöst wurde. Einige arabische Bürger verurteilten die
Entscheidung der Gemeinsamen Liste. Sofort wurden sie von anderen
arabischen Bürgern beschuldigt, “Gute Araber” zu sein, eine
abwertende Bezeichnung für Araber, die danach gieren,
sich bei Mitgliedern der jüdischen Mehrheit beliebt zu machen,
ähnlich wie “Onkel Tom” bei den Schwarzen in den USA.
Diese Debatte dauert
noch an. Sie berührt die Grundfesten der Existenz der
arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel, die über 20% der
Bevölkerung ausmacht.
ALL DAS
bringt mich in meine frühe Kindheit zurück.
Ich lebte neuneinhalb
Jahre in der Demokratischen Deutschen “Weimarer Republik” und
ein halbes Jahr
in Nazi-Deutschland. Wir waren “deutsche Juden”, das heißt: Deutsche
in jeglicher Beziehung, Juden nur durch die Religion.
In der Praxis bedeutete
das, dass wir Deutsche waren, aber eine andere Art von Deutschen,
die dazugehörten, aber doch nicht ganz dazugehörten, die
gleichzeitig zu irgendeiner weltweiten Gemeinschaft gehörten, die
das “jüdische Volk” genannt wurde.
Ich erinnere mich häufig
an ein großes Ereignis in meinem Leben: eine patriotische
Gedenkzeremonie im Gymnasium,
einige Zeit, nachdem die Nazis an die Macht gelangt waren. Die
gesamte Schule war in der Aula
versammelt, und am Ende erhoben
sich alle, um die Nationalhymne und die Nazihymne
zu singen. Da ich ein Schüler der untersten Klasse und jünger als
alle anderen Schüler meiner Klasse war, war ich der kleinste Junge
in der Schule. Außerdem war ich der einzige Jude.
Ohne nachzudenken, erhob
ich mich wie alle anderen. Aber ich hob meinen Arm nicht zum
Nazi-Gruß und stimmte auch nicht wie alle anderen in die Hymne ein.
Ein kleiner Junge unter hunderten von größeren.
Als die Veranstaltung
beendet war, drohten mir einige größere Jungen schlimme Konsequenzen
an, wenn ich das noch einmal täte. Glücklicherweise verließen wir
ein paar Tage darauf Deutschland, um nach Palästina auszuwandern.
DIESER KLEINE
Vorfall
hilft mir vielleicht, auf irgendeine Weise die Gefühle der
arabischen Bürger Israels zu verstehen.
Was sind sie? Israelis?
Araber? Palästinenser? Israelische Araber (eine Bezeichnung, die sie
verabscheuen)? Palästinensische Bürger Israels (wie viele sich nun
selbst lieber bezeichnen)? Alles? Nichts von alledem?
Nach dem Krieg von 1948,
in dem der Staat Israel gegründet wurde und in dem 750 000 Araber
flohen oder vertrieben wurden (und an der Rückkehr gehindert),
betrug die Bevölkerung des neuen Staates 650 000 Menschen, 20% von
ihnen waren Araber. Durch ein Wunder (oder die jüdische
Einwanderung) blieb dieser Prozentsatz unverändert bis zu diesem
Tag, trotz der bedeutend höheren arabischen Geburtsrate.
Nach der Gründung
Israels wurden alle arabischen Städte und Dörfer in dem neuen Staat
einer “Militärregierung” untergeordnet, einem Regime, dass sich
nicht auf ein Gebiet bezog, sondern nur für die arabischen Einwohner
galt. Es bedeutete, dass ohne eine schriftliche Genehmigung kein
Araber sein Dorf oder seine Stadt verlassen durfte, selbst dann
nicht, wenn es sich nur um den Besuch bei einem Vetter im
Nachbardorf handelte. Keine Transaktion konnte ohne schriftliche
Genehmigung vollzogen werden, weder eine Importlizenz für einen
Traktor, noch die Erlaubnis, um die Tochter in eine pädagogische
Hochschule zu schicken.
Dieses
verabscheuungswürdige Regime dauerte 18 Jahre. Jüdische Israelis des
Friedenslagers und die bi-nationale Kommunistische Partei waren
aktiv in Versuche involviert, diese zu beenden. Ich nahm an
Dutzenden von Demonstrationen teil und gestaltete sogar das Logo der
Kampagne (ein einfaches “x”).
Solange David Ben-Gurion
an der Macht war, assistiert von Shimon Peres, führten unsere
Proteste zu nichts. Nur, als beide von ihrer eigenen Partei
herausgeworfen wurden, wurde die Militärregierung abgeschafft. Der
Shin Bet (Geheimdienst für die innere Sicherheit),
befürwortete
die Abschaffung – indem er argumentierte, dass diese
Militärregierung
mehr schadete als nützte, so dass der Sicherheitsdienst seinen Job
besser ohne sie ausüben könne.
In diesen Jahren stand
ich in enger Verbindung mit der arabischen Gemeinschaft und schloss
viele Freundschaften in arabischen Städten und Dörfern. Ich hatte
Araber
unter den Mitarbeitern meines
Magazines was zu
der Zeit ungewöhnlich war und als ich eine neue Partei aufstellte,
hatten wir arabische Kandidaten und Wähler.
Unglücklicherweise habe
ich diese Verbindungen seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967
vernachlässigt, als Israel den Gazastreifen und die Westbank
einnahm, einschließlich Ostjerusalems. Ich wurde völlig von dem
Kampf zur Gründung eines palästinensischen Staates und für
Menschenrechte in den besetzten Gebieten beansprucht.
ALSO, WIE sieht nun die Situation für
die arabischen Bürger im eigentlichen
Israel aus?
Es gibt zwei
Beschreibungen.
Die eine ist, dass sie
so wie alle anderen Bürger Israels, des “Jüdischen und
Demokratischen Staates”, sind.
Die andere ist, dass sie
eine schlecht behandelte Minderheit sind, unterdrückt und
diskriminiert, die sich mühsam durch ein elendes Leben kämpft.
Welches dieser Bilder
entspricht nun der Wahrheit?
Keins von beiden.
Jahre bevor Avigdor
Lieberman Verteidigungsminister wurde und noch sagen konnte, was er
wollte, Idiotisches oder Andersartiges, machte er einen
überraschenden Vorschlag: einen palästinensischen Staat zu gründen
und die benachbarten israelischen Gebiete, die von Arabern bewohnt
werden, diesem im Austausch gegen die Westbank-Gebiete, die von
jüdischen Siedlern bewohnt werden, anzugliedern.
Gemäß diesem Vorschlags
würden viele der Araber, die nun Bürger Israels sind, mit all ihren
Ländereien, Dörfern und Städten ein Teil des zukünftigen Staates
Palästina sein. Wunderbar.
Aber die Reaktion bei
den Arabern in Israel war ein wütender Aufschrei. Nicht eine einzige
arabische Stimme, die für diese Lösung war, war zu hören.
Warum? Das
Durchschnittseinkommen der israelischen Bürger, einschließlich der
arabischen, ist mehr als zehnmal höher als dass der arabischen
Einwohner der besetzten Gebieten. Menschen- und Bürgerrechte sind
unvergleichbar sicherer.
Es gibt in Israel
arabische Chefs von Krankenhausabteilungen. Arabische Krankenpfleger
werden einzigartig gelobt. Es gibt ein hoch angesehenes arabisches
Mitglied des Obersten Gerichtshof, das jüdische Minister ins
Gefängnis schickt. Es gibt arabische Professoren in den
Universitäten.
Demnach erfreuen sich
also die arabischen Bürger vollkommener Gleichheit?
Weit entfernt davon. Sie
werden diskriminiert auf unzählige Arten. Arabische Gemeinden
erhalten bedeutend niedrigere Regierungssubventionen als ihre
jüdischen Nachbarn. Arabische Schulen leiden allgemein unter einem
niedrigeren Standard (obwohl ein paar auf der Liste als hoher
Standard stehen). Beduinendörfer werden zerstört und zwangsweise
umgesiedelt. Keine jüdische Partei hätte jemals im Traum daran
gedacht, die Gemeinsame Liste in eine Regierungskoalition
einzuschließen.
Der
Durchschnittslebensstandard der arabischen Bürger ist niedriger als
der der jüdischen Bürger, obwohl er noch bedeutend höher ist als der
in den besetzten Gebieten und den meisten arabischen Ländern.
Aber noch wichtiger: Man
lässt arabische Bürger jede Minute ihres Lebens spüren, dass dies
ein “Jüdischer Staat” ist, dass der Staat ihnen nicht gehört, dass
sie bestenfalls nur geduldet werden. Sie werden gezwungen, eine
Nationalhymne zu singen, die nichts mit ihnen zu tun
hat
("Solange eine jüdische Seele
...”) – Das
erinnert mich an mein eigenes Erlebnis, als ich als Junge singen
musste. Die Fahne und alle anderen Symbole des Staates sind
ausschließlich jüdisch.
Dennoch gaben mehrere
arabische Freunde mir gegenüber privat zu, dass sie, wenn sie ihre
Verwandten in der Westbank besuchten, diesen gegenüber ein Gefühl
der Überlegenheit hätten. Aber wenn sie an den Strand von Tel Aviv
gingen, was sie selten täten, wagten sie nicht, Arabisch zu
sprechen.
Insgesamt ein sehr
gemischtes Bild, weit entfernt von den einfachen Slogans beider
Seiten.
KEINE NATIONALE
Minderheit in der Welt
ist vollkommen glücklich. Das scheint gegen die menschliche Natur zu
gehen.
In den ersten Jahren des
Staates war die arabische Minderheit untergeordnet. Die meisten
ihrer Mitglieder in der Knesset waren Kollaborateure der
zionistischen Parteien. Ein Mitglied, Abd-al-Aziz Zoabi, beschwerte
sich: "Mein Land ist mit meinem Volk im Krieg!"
Fast alle jüdischen
Israelis, darunter fast alle Parteien, verleugneten
damals
die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes. “So etwas wie ein
palästinensisches Volk gibt es nicht”, erklärte bekanntermaßen Golda
Meir. Ich selbst habe tausende Stunden meines Lebens damit
verbracht, israelische Zuhörer davon zu überzeugen, dass es ein
palästinensisches Volk gibt und dass es ohne dieses Volk keinen
Frieden geben wird.
Diese Tage sind längst
Vergangenheit. Die palästinensischen Bürger von Israel sind nun eine
starke, stolze Gemeinde. Eine andere Zoabi, Hanin, bringt die Juden
zur Raserei mit ihren provokativen Eskapaden.
Aber, wenn wir seit
vielen Jahren hofften, dass diese arabische Gemeinschaft zu einer
“Brücke” zwischen Israel und der arabischen Welt werden würde, so
ging diese Hoffnung bereits lange verloren.
(“Eine
Brücke ist etwas, auf dem die Menschen herumtrampeln”, sagte mir
einmal ein arabischer Freund.)
Was noch schlimmer ist, die Kluft zwischen den arabischen und den
jüdischen Bürgern in Israel wird ständig größer und immer tiefer.
In meinen Augen ist das
eine Tragödie. Wenn all die Vorurteile verschwänden und Frieden
zwischen Israel und Palästina entstünde, könnten Juden und Araber im
reinen Israel leicht zu einer israelischen
Gemeinschaft
verschmelzen.
Eins ist ziemlich
sicher: Es wird keinen Wandel zum Besseren in Israel geben, keine
Änderung in Regierung und Politik, ohne dass die arabischen Bürger
und ihre Repräsentanten ein integrierter Teil
einer
neuen Friedensbewegung
werden, ohne die es keine Hoffnung gibt.
Na ja, ich bin Optimist.
(Aus dem Englischen
übersetzt von Inga Gelsdorf)
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